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FAQ zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

Stand: 29. März 2023

Vorbemerkung

Russland brach das Völkerrecht und verschob als unverletzlich geltende Grenzen, als es 2014 die Krim annektierte und im Februar 2022 schließlich die gesamte Ukraine angriff. Es verletzte die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die Charta von Paris von 1990, die Nato-Russland-Grundakte von 1997 sowie das Memorandum von Budapest von 1994 und kündigte damit die gemeinsam aufgebaute europäische Sicherheitsordnung auf. Die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten, die Unverletzbarkeit der Grenzen und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten sind wesentliche Elemente der europäischen Sicherheitsordnung. So haben mit der Charta von Paris 1990 alle Teilnehmerstaaten insbesondere das Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen souveräner Staaten und die freie Bündniswahl bekräftigt; Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion ist Signatarstaat der Charta von Paris. Eines der Hauptanliegen der Sowjetunion bei der Helsinki-KSZE-Schlussakte von 1975 war die Festschreibung des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen. In dem Memorandum von Budapest 1994, mit dem sich die Ukraine zur Abgabe aller Atomwaffen verpflichtet hatte, hat Russland als Garantiemacht der Ukraine im Gegenzug die Unantastbarkeit ihrer Grenzen zugesichert. Auch die Charta der Vereinten Nationen sieht das Prinzip der Unantastbarkeit vor. Eine einseitige Erklärung der Unabhängigkeit oder eine Abspaltung sind dann völkerrechtswidrig, wenn sie mit einseitiger Gewaltanwendung verbunden sind. Dies ist beim völkerrechtswidrigen Angriff Russlands gegen die Ukraine eindeutig der Fall. Zudem hat Russland im Verlauf seines Angriffskriegs zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen.

Das russische Vorgehen in der Ukraine wurde u.a. ideologisch unterlegt mit der Ideologie der sog. „Ruskij Mir“, also der Zuständigkeits- und Sicherheitsgarantie für alle außerhalb des russischen Staatsgebiets lebenden Russen. Diese Ideologie ruft Ängste vor einer russischen Invasion in den Nachbarländern hervor, in deren historischem Gedächtnis die jahrzehntelange totalitäre sowjetische Herrschaft noch einen festen Platz hat. Mit dieser Rechtfertigung Russlands für die Aggression könnten viele Grenzen in Europa und damit Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent infrage gestellt werden.

Russland beansprucht das Gebiet der früheren Sowjetunion als eigene Interessenssphäre, in der es Gestaltungsansprüche geltend macht und Einfluss nehmen will. Das widerspricht den völkerrechtlichen Grundsätzen der Souveränität und territorialen Integrität und ist nicht akzeptabel.

Russland versucht mit seiner hybriden Einflussnahme Gesellschaften nicht nur in den westlichen Staaten zu spalten, in Deutschland die Politik der Bundesregierung zu diskreditieren, sondern auch die engen Bindungen zwischen europäischen Staaten und den USA zu trüben sowie Länder zu destabilisieren, die sich der EU und NATO annähern wollen. Dafür setzt Moskau zielgerichtet und zentral abgestimmt ein breites Spektrum unterschiedlicher Instrumente ein: nachrichtendienstliche Aktivitäten, antiwestliche Propaganda, Desinformation durch Medien wie RT, politische und finanzielle Unterstützung für rechtspopulistische Parteien in der EU, Sabotagekampagnen durch Cyber-Angriffe wie auch die Instrumentalisierung der im Ausland lebenden Russen, darunter auch einige der Russlanddeutschen.


Es gab Zusagen an Russland, die NATO nicht Richtung Osten zu erweitern

Das ist falsch. Nach dem Fall der Mauer war der wichtigste Diskussionspunkt zwischen den USA und der Sowjetunion die Frage nach der künftigen europäischen Sicherheitsordnung. Waren während des Kalten Kriegs beide Lager klar in Warschauer Pakt und NATO organisiert, so existierte nun nur noch der Nordatlantikpakt. In der NATO begann man ernsthaft darüber zu diskutieren, wie das Bündnis an die Gegebenheiten in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges angepasst werden könnte. In dem Bestreben, den Wünschen in Warschau, Prag und anderen Hauptstädten Rechnung zu tragen, aber gleichzeitig Moskau nicht zu verprellen, beschloss die NATO die Gründung der Partnerschaft für den Frieden im Jahr 1994. Diese Partnerschaft eröffnete den Organisationen einen Weg zur Mitgliedschaft, ohne die Sicherheitsverpflichtungen des Bündnisses zu erweitern. Russland trat dieser Partnerschaft selbst bei.

Doch trotz dieser Partnerschaft wuchsen bereits ein Jahr nach dem russischen Beitritt bereits wieder die Spannungen zwischen Ost und West. 1999 schließlich traten die drei ehe-maligen Warschauer Pakt Staaten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik, in die NATO ein. Putin behauptet bis heute, die NATO hätte die Zusagen der 1990er Jahre nicht eingehalten, dass man sich nicht in den Osten ausdehnen würde – nur gab es solche Zusagen nie. Das wissen wir heute durch umfangreiche Archivarbeit von einer Vielzahl von Historikerinnen und Historikern.


Aber der der deutsche Außenminister Genscher sagte doch selbst, die NATO würde sich nicht gen Osten erweitern

Einer der zentralen Belege für diese Behauptung ist eine Aussage Genschers nach einem Treffen mit seinem US-Amtskollegen James Baker in Washington: „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell." Genscher hat aber hier nur seine persönliche Haltung wiedergegeben - die Äußerung war kein Zugeständnis in einer Verhandlung, sondern allenfalls ein weiches Signal im Vorfeld der eigentlichen Verhandlungen. Die hatten zu dem Zeitpunkt der Aussage noch gar nicht begonnen. Genscher war zudem als bundesdeutscher Außenminister gar nicht in der Position, für die NATO zu sprechen. Sowohl Kanzler Kohl als auch die USA teilten die Einschätzung Genschers explizit nicht. Alle an den Gesprächen Beteiligten – auch der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow – erklärten später, eine mögliche NATO-Osterweiterung war in den weiteren Gesprächen überhaupt kein Thema. Worum es lediglich ging, war zunächst überhaupt die Frage: Wird ganz Deutschland künftig zur NATO gehören? Dem stimmte die Sowjetunion zu – vor allem, nachdem der Westen ihr eine Finanzspritze von fünf Milliarden Mark versprochen hatte.


Die NATO band Russland in die Osterweiterung nicht ein

Jeder Schritt der NATO-Osterweiterung ging einher mit einem Schritt auf Russland. 1999 wurden die Beitritte Polens, Tschechiens und Ungarns von der NATO-Russland-Grundakte begleitet und die Beitritte Bulgariens, Rumäniens, der Slowakei, Sloweniens und der baltischen Staaten von der Gründung des NATO-Russland-Rats.

In der NATO-Russland-Grundakte erkannte Russland sogar an, dass es kein Vetorecht gegen die NATO-Mitgliedschaft anderer Länder hat. Spätestens damit macht Moskau den Weg frei für die Aufnahme weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO.


Die Ukraine hat im Verlauf des Kriegs keine Verhandlungsbereitschaft gezeigt

Zu Beginn des Krieges hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine breite Verhandlungsbereitschaft gezeigt: Rückkehr zur Kontaktlinie im Donbass, eine Vertagung der Krimfrage um 15 Jahre, kein NATO-Beitritt der Ukraine, Neutralität, aber Beitritt zur Europäischen Union. Russland ließ die Verhandlungen in Belarus und der Türkei ergebnislos platzen und antwortete mi den Kriegsverbrechen in Butscha, Irpin und Mariupol. Die Annahme, das Sterben würde durch sofortige Verhandlungen aufhören, ist eine Wunschvorstellung. Vielmehr bedeutet es Russifizierung, also Entführung von Kindern, Unfreiheit, Folter, Vergewaltigung und Tod.


Würden die Ukraine und Russland mit Verhandlungen beginnen, wäre der Krieg sofort vorbei

Das Denken, würde die Ukraine nur verhandeln, wäre der Krieg sofort vorbei, entspricht einer Russland-Romantik, die bspw. seine Wurzeln in Egon Bahr hat, der sagte: „Die Ukraine kann nie ganz westlich oder russisch sein“, was eine de facto Aberkennung der souveränen Entscheidungsmacht eines Staates entspricht. Das widerspricht klar dem Völkerrecht. Die Entscheidung, Verhandlungen zu beginnen, unterliegt allein der ukrainischen Regierung, die durch seine Bevölkerung legitimiert ist. Diese sieht die Voraussetzung (eine starke militärische Verhandlungsposition) nicht als gegeben an. Zudem verkennt diese These die Historie der Ukraine. Der russische Angriffskrieg begann nicht am 24. Februar 2022, sondern bereits 2014. Die Lehren aus diesem Jahr und dem Minsker-Prozess zeigten, dass eine Art Kompromiss mit Moskau derzeit nur um den Preis möglich ist, dass Russland einige Jahre später umso intensiver erneut angreift. Jedes Entgegenkommen versteht Russland als Einladung später weiter in der Ukraine, aber auch in Moldau, Polen oder dem Baltikum weiter anzugreifen. Deswegen ist es im sicherheitspolitischen Eigeninteresse klug, Russland jetzt seine Grenzen aufzuzeigen. Auch, damit das russische Vorgehen keine Nachahmer findet (bspw. China gegen Taiwan).


Es handelt sich nur um Putins Krieg. Die russische Bevölkerung ist gegen ihn.

Im Gegensatz zur Sowjetunion handelt es sich beim heutigen Russland um eine klar revisionistische Macht. Zudem ist die russische Bevölkerung mit ihren zahlreichen ethnischen Minderheiten tief militarisiert und von Gewalt geprägt. Die Zivilgesellschaft ist zerstört. Darunter solche alten Institutionen wie das Sacharow-Zentrum, Memorial oder das Komitee der Soldatenmütter. Auch führende Oppositionelle sind entweder ermordet (bspw. Boris Nemzow) oder im Exil (Garri Kasparow). Eine militärische Niederlage des Regimes von Putin in der Ukraine könnte somit auch der Zivilgesellschaft helfen.


Die westlichen Waffenlieferungen haben zu einer weiteren Eskalation beigetragen

Die Lieferungen von tragbaren Javelin Panzerabwehrlenkwaffen und infrarotgelenkten Flugabwehrraketen Stingers aus Großbritannien, den baltischen Staaten und den Vereinigten Staaten haben zu Beginn des Krieges das Überleben der Ukraine gesichert. Auch die weiteren Waffenlieferungen haben die Eskalationsspirale nicht weiter angeheizt – im Gegenteil: Die Eskalation ging stets von Russland aus und findet tagtäglich in der Ukraine statt: Mord, Vergewaltigung, Folter. Die deutsche Zurückhaltung bei der Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern zwischen März 2022 und Januar 2023 hat Russland nicht

als Zeichen für eigene Deeskalation begriffen. Viel mehr intensivierte Putins Regime die Angriffe auf ukrainische zivile Infrastruktur. Allein zwischen Juli und November 2022 griff die russische Armee ca. 35.000 zivile und nur etwa 300 militärische Ziele in der Ukraine an. Zudem wurden in dieser Zeit knapp 15 Millionen Menschen vertrieben.

Die Krim war schon immer russisch.

Oftmals hört man die Aussage, die Annexion der Krim war nicht rechtens, aber dennoch nachvollziehbar. Dies entspricht der offiziellen Rhetorik Russlands, der zufolge die Krim historisch schon immer russisch sei und von Nikita Chruschtschow illegal 1954 an die ukrainische Sowjetrepublik verschenkt wurde. Viele Aspekte der Krim-Geschichte werden dabei ignoriert. Dazu gehören die Völkervielfalt auf der Krim, die lange krimtatarische Herrschaft, die Deportation des gesamten krimtatarischen Volkes unter Stalin 1944, die Rückkehr der Krimtataren auf die Krim nach 1991 und ihre Ansprüche als indigenes Volk. Auch das vermeintliche „Geschenk“ Chruschtschows ist zu kontextualisieren. Er versprach sich von der Integration der Krim in die administrative Struktur der Ukrainischen SSR auch einen wirtschaftlichen Entwicklungsschub für die Region. Grenzänderungen waren in der sowjetischen Praxis nicht selten.

Die Frage nach dem Status der Krim war für die Ukraine in jener Zeit die größte territoriale Herausforderung, aber bis zur Ratifizierung der ukrainischen Verfassung von 1996, die einen Kompromiss zwischen Kiew und der Autonomen Republik der Krim schuf – eine Autonomie mit begrenzten Vollmachten –, war diese Frage geklärt. Die Krim ist in der Tat die einzige Region der Ukraine, in der sich die Mehrheit der Bevölkerung (mehr als sechzig Prozent) in nach ethnischer Herkunft fragenden Volkszählungen als „russisch“ bezeichnet hat. Dennoch sprach sich in einem Referendum am 1. Dezember 1991 eine Mehrheit von 54 Prozent der Teilnehmenden auf der Krim für die Unabhängigkeit der Ukraine aus. Die Zustimmung war zwar geringer als in allen anderen Regionen der Ukraine, aber es war eine Mehrheit.

2014 schließlich besetzten russische Kämpfer ohne Abzeichen militärische Stützpunkte sowie das Lokalparlament auf der Krim und erzwangen durch eine "Sondersitzung" einen Regierungswechsel und ein Referendum über den Status der Halbinsel. Als es am 16. März stattfand, hatten die staatlichen Strukturen der Ukraine die Kontrolle über die Krim verloren: die Halbinsel war militärisch besetzt. Anschließend annektierte Russland die Halbinsel, was klar völkerrechtswidrig war und ist.

FAQ von Roderich Kiesewetter MdB.